Hypervenezia – Palazzo Grassi – Venedig

Besuch am Samstag, 26.9.2021, ca 2,5 Std. Die Ausstellung ‚Hypervenezia‘ ist Teil eines ‚Venice Urban Foto Projekts‘ unter maßgeblicher Mitwirkung des 1958 geborenen Fotografen und Galeristen Mario Peliti. Beginnend 2006, soll die fotografische Dokumentation 2030 abgeschlossen sein. Aus den derzeit etwa 12000 Fotografien wurden 357 für die Ausstellung im Palazzo Grassi ausgewählt, der dem Kunstmäzen und Milliardär Francois Pinault gehört. Die Ausstellung geht noch bis zum 9.1.2022.

Blick zur Rialto-Brücke
Foto: Venice Urban Photo Project / Mario Peliti

Die Ausstellung in den 16 Räumen des Obergeschosses rund um den großen Lichthof gliedert sich in 3 Bereiche, genannt ‚die Linie‘ (La Linea), ‚die Projektion‘ (La Proiezione) und ‚die Karte‘ (La Mappa). Dabei dominiert der Erstgenannte, sieht man einmal von der Musik zur Projektion ab, die sich in die umliegenden Räume quasi hineinschleicht. Streng sind 357 matte schwarz-weiß Fotos in 15 Räumen gehängt, aneinanderstoßend, mit ca 50 cm gleich hoch in einer Linie, nur dass die Hochformate entsprechend schmäler sind. So folgt man auch der Gliederung Venedigs in die einzelnen Stadtteile San Marco, Castello, Cannaregio, Santa Groce, San Polo und Dorsoduro mit der Giudecca. Nur in einem Raum bilden kleinere, ebenfalls gleichformatige, in Form des venezianischen Fisches gehängte Fotos eine Ausnahme – La Mappa. Zudem werden in einem durch fast raumhohe Großfotos abgetrennten Bereich jeweils 3 Fotos mittels Beamer groß im Wechsel projiziert. Dazu genannte Musik (von Nicolas Godin), getragen, leicht elegisch und zugleich unaufdringlich.

Auf den Fotos gibt es keine Schatten und keine Menschen, bisweilen ein paar Vögel, einmal eine Katze. ‚Hypervenezia‘ heißt diese menschenleere, schattenlose Stadt – die Macher*innen wollen ‚hyper‘ mit ‚über‘, ‚darüber hinaus‘ übersetzt sehen. Das scheint mir zu knapp, war doch in der Antike ‚Hyperborea‘ das Land über dem Nordwind (Borea) am Ende der Welt, das ferne Land des Paradieses, das weder Alter noch Krankheit kannte, in dem sich die Bewohner mit Tanz und Musik im Umfeld Apollos vergnügten und sich von einem Felsen stürzten, wenn sie sterben wollten. Die Bora, den kalten Nordwind, kennen die Venezianer natürlich, wenn auch aus der anderen Seite der Adria. Ich bin unsicher, ob man Venedig einen Gefallen tut, wenn man die Häuser ohne Schatten fotografiert. Nicht erst seit der Romantik etwa mit Chamissos ‚Peter Schlemihl‘, der seinen Schatten gegen Reichtum an den Teufel verkauft, führt der Verlust des Schattens zu Ausgrenzung.

Aber diese Art der Fotografie lässt die Häuser, egal ob Palazzo, Kirche oder Wohnhaus fast natürlich aus dem Boden wachsen, lässt sie für sich stehen, ruhig, würdig. Es ist, als ob sie schon immer darauf gewartet hätten, von diesem hektischen Trubel mit den vielen Menschen erlöst zu werden, damit sie einfach sein können, wie sie sind. Als ob sie nur schlummern: „Meine weissen ara haben / Safrangelbe kronen / Hinterm gitter wo sie wohnen / Nicken sie in schlanken ringen / Ohne ruf ohne sang / Schlummern lang / Breiten niemals ihre schwingen – / Meine weissen ara träumen / Von den fernen dattelbäumen.“(Stefan George, Originalorthografie). Venedig ein (böser?) Traum? Die Fotos egalisieren, geben allen Häusern die Wertigkeit, die sie ja besitzen, die man nur meist nicht wahrnimmt. Und die Fotos sind milde, machen selbst Hässliches schöner als im Leben. Nehmen wir das hässlichste Gebäude Venedigs, denn natürlich hat auch Venedig sein hässlichstes Gebäude: das ‚Archivio di Stato‘. Ich meine nicht den heute hauptsächlich benutzen ‚Seiteneingang‘ neben der Frari-Kirche, sondern die Fassade zum Rio Terà San Tomà, nicht Gasse, nicht Platz, erdrückt von der grauen, schattenlosen Wucht des abweisenden Archivs mit kafkaesker Härte. Man fragt sich, was denn all diese Relikte aus Venedigs Vergangenheit verbrochen haben, dass man sie in so einem Haus einsperrt. Auch im normalen Leben hält sich hier kaum jemand auf, außer vielleicht, er/sie hat sich im venezianischen Labyrinth verlaufen.

Das Staatsarchiv ist bei blauem Himmel und Stimmengewirr von der Frari-Kirche noch abweisender
Foto: Venice Urban Photo Project / Mario Peliti

So haben wir es mit einer spannenden Ausstellung aus einem außergewöhnlichen Projekt zu tun. Wenn es überhaupt eine Annäherung an diese ungewöhnliche Stadt gibt, ist man hier möglicherweise auf dem richtigen Weg, indem man die Häuser sprechen lässt.

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