Besuche der Biennale in der Zeit vom 29.5. – 10.6.2019, in den ‚Giardini‘ (4.6.), im ‚Arsenale‘ (6.6.) je ca 5 Std. und in vielen über die Stadt verteilten Ausstellungen. „May you live in interesting times“ heißt das Motto dieser Kunst-Biennale, also „Mögest du in interessanten Zeiten leben“. Die Biennale, die von Ralph Rugoff kuratiert wird, geht noch bis zum 24.11.2019. Träger der Biennale ist eine gleichnamige Gesellschaft mit Paolo Baratta als Präsident.

Giardini, Belgischer Pavillon: Mondo Cane, Jos de Gruyter und Harald Thys.
Installation mit beweglichen Puppen
Foto: Gerd Walther
Die Biennale besteht aus 3 Ausstellungsbereichen, den ‚Giardini‘ und dem ‚Arsenale‘, wo’s Eintritt kostet, und den Ausstellungen in der Stadt, wo’s umsonst ist. In den ‚Giardini‘ befinden sich etwa 30 Länderpavillons und der große Zentralpavillon mit über 30 Sälen. Im ‚Arsenale‘, also Venedigs alter Schiffswerft, stellten etwa 70 Einzelkünster aus. Zudem liegen hier über 20 Länderpavillons. Das ist Lust und Last zugleich. Überschaubarer und offener für einen spontanen Besuch sind die fast 60 Ausstellungen unterschiedlicher Größe von Ländern und Einzelkünstlern in der Stadt. Insgesamt fand ich die diesjährige Biennale erfreulich politisch. Zudem gehen die Künstler kräftig und offensiv mit ihren Themen um. Politisch sind viele Beiträge weniger vordergründig thematisch, wobei unser Umgang mit der Welt auch hier eine Rolle spielt. Wichtiger ist, dass immer wieder unsere Rolle also Zuschauer, Zuhörer, Betrachter thematisiert ist, dass die Besucher und ihr Umgang mit Kunst (und sich selbst und der Welt) ein zentrales Thema in vielen Beiträgen sind.
Da es keinen Sinn ergibt, einen Schnelldurchlauf mit einem Halbsatz pro Ausstellung zu machen, sei der Pavillon Chiles beispielhaft vorgestellt. Er befindet sich im ‚Arsenale‘ – beim Durchgang etwa an 80.Stelle – und ist räumlich nicht sehr groß, aber intensiv. Die Künstlerin Voluspa Jarpa hat die Ausstellung ‚Altered Views‘ geschaffen, also ‚Anderes/Verändertes Hinsehen‘. Die drei Abteilungen der Ausstellung heißen ‚Museum der Vormachtstellung‘ (The hegemonic museum), ‚Galerie der Portraits der Untergeordneten‘ (The subaltern portraits gallery) und ‚Oper der Befreiung‘ (The emancipating opera). Es wird uns hier, quasi vom anderen Ende der Welt, ein Blick auf Europa (und die USA) gegeben, der zeigt, dass fast die ganze Welt in den letzten 350 Jahren von europäischen Staaten (und den USA) unterdrückt und ausgebeutet wurde. Aber nicht nur andere Völker, sondern auch die eigene Bevölkerung in Europa. Das ist abwechslungsreich, immer spannend und eindrucksvoll gemacht.

Arsenale, Pavillon Chile:
Altered Views, Voluspa Jarpa. Stadtplan Wien 1848 mit
Barrikaden sowie Dioramen zum 1. Demokratischen Frauenverein
Foto: Gerd Walther
Sechs Fallstudien geben den Blick vom ‚Rand‘ auf Europa frei, nicht wie üblich umgekehrt. Sie zeigen das Krisenjahr Hollands 1672, als die Staatsmänner Johan und Cornelius de Witt übelst misshandelt, gelyncht, ihre Genitalien abgeschnitten und wohl in einem Akt von Kannibalismus verspeist wurden. 1848 wurde in Wien der 1. Demokratische Frauenverein gegründet und in einer stark pornografisch geprägten Verfolgungskampagne unterdrückt. Karl Hagenbeck war in der 2.Hälfte des 19.Jhs nur der bekannteste Zoodirektor, der auf (Welt-)Ausstellungen nicht nur Tiere, sondern auch Menschen aus den Kolonien vorführte. Etwa zeitgleich entwickelte der Begründer der modernen Neurologie, Charcot, das Krankheitsbild der ‚hysterischen Frau‘ als Sammelbegriff für alle möglichen, unerklärlichen Frauenleiden. Der Umgang mit ‚Bananenrepubliken‘, wenn sie den Interessen der ‚United Fruit Company‘ und der USA zuwider handelten, wird am Sturz des Präsidenten Arbenz 1954 in Guatemala vorgeführt. Und zuletzt wird v.a. am Beispiel Italiens ‚der tiefe Staat‘ angesprochen, die mögliche Kooperation von Politikern, Geheimdiensten (auch ausländischen), Polizei, Militärs und rechtsextremen Verbänden etwa beim Attentat von Bologna 1980 oder der Ermordung Aldo Moros 1978. Die Galerie zeigt nochmals Bilder der Opfer, während zuletzt ein mit Gesang unterlegter Film den Blick hoffnungsvoll in die Gegenwart lenkt, auf die Majestät der Anden und ihrer Bewohner, Menschen wie (Maul-)Tiere. Und auf eine Sängerin, die in Chiles Nationalbibliothek Gobineaus Buch ‚Von der Ungleichheit der menschlichen Rassen‘ isst.
Das ist alles sehr eindrucksvoll und gut gemacht. Das Problem: Viele Besucher (nicht alle) sind mit ihrer Aufnahmefähigkeit mittlerweile so am Ende, dass sie Abwechslung suchen, etwas Lustiges. So etwa die übergroßen Penisse in den kleinen Dioramen zu Wien 1848, die man mit einer Lupe betrachten kann. Ums deutlich zu sagen: Es ist nicht die ‚Schuld‘ dieser Besucher, wenn sie das Thema in seiner Tiefe nicht mehr erfassen, sich oberflächlich amüsieren. Es ist dies eine ’normale‘ Folge solcher Monster-Ausstellungen wie im ‚Arsenale‘ oder den ‚Giardini‘. Unter diesem Vorbehalt ist die sehr spannende und anregende Biennale unbedingt zu empfehlen.