The Explorers Part One
Besuche am Sonntag, 3.6.2018 und am Donnerstag, 7.6.2018, insgesamt fast drei Std. Die bis zum 22.Oktober 2018 laufende Ausstellung ‚The Explorers – Part One‘ ist im ‚Palazzo delle Zattere‘ neben der Vaporetto-Station ‚Zattere‘ am Giudecca-Kanal untergebracht. Sie entstand in einer Zusammenarbeit der ‚V-C-A Foundation‘, die seit 2017 im frisch renovierten Palast ihre Niederlassung in Venedig hat, und der ‚Whitechapel Gallery‘, London.
Die Künstlerin und Malerin Lynette Yiadom-Boakye und der Filmkünstler James Richards haben neben jeweils zwei eigenen Werken eine (schmale) Auswahl mit Kunstwerken des 20.Jhs aus dem Fundus von V-C-A getroffen, die durch die Kuratorin und Direktorin der Whitechapel Gallery, Iwona Blazwick, mit weiteren Kunstwerken vertieft wurde. In der 2017 eröffneten Ausstellungsfläche sind ca 30 Exponate auf etwa 1000 qm und drei Ebenen mit maximal drei Bildern pro Raum großzügig untergebracht. Die Ebene 1 zeigt je ein Werk von Yiadom-Boakye und Richards (zu dem man sich Zeit lassen, das anfängliche Besuchstempo herunterschrauben sollte). Die Ebene 2 hat Blazwick mit Yiadom-Boakye kuratiert, die Ebene 3 zusammen mit Richards.
Es braucht ja nicht viel, um einen ungemein spannenden Bogen über die Kunst des 20. Jhs zu schlagen, evtl mit einem leichten Schwerpunkt bei russischen Künstlern. Die nicht chronologisch gehängten Bilder beginnen mit Renoirs ‚Liegende Nackte‘ von 1903. Egon Schiele ist vertreten, Chaim Soutine, Alberto Giacometti (mit einem Gemälde), es geht zu Andy Warhols ‚Cow‘ (1966) bis zu dem ganz seltsamen Teppich ‚Yosemite National Park‘ (2008) von Piero Golia. Dazu wenige, aber eindringliche Fotos von russischen Künstlern oder Cindy Shermans ‚Untitled (#58)‘ (1960). Von ihr hängen, ähnlich wie von Rudolf Stingels Großformat-Passfoto ‚Untitled‘ (2010), in der zeitgleichen Ausstellung ‚Dancing with myself‘ im ‚Punto della Dogana‘ gleich dutzende Werke, aber Masse allein macht’s nicht. Die einzelnen Exponate mitsamt den Künstlern werden mit nicht allzu langen, aber aussagekräftigen und fundierten Texten auch auf englisch erläutert.
Was die Ausstellung zudem hervorhebt, sind die Zusammenführungen von Bildern bzw. Videos mit Musik. In einem Saal auf Ebene 2 läuft im Kinoformat ‚Le Sacre du Printemps‘, Igor Strawinskys 1913 uraufgeführtes Ballett, in einer bis in die Choreografie (von Nijnsky) und Kostümierung (von Roerich) genauen Rekonstruktion von 2013 durch das Mariinsky Theater aus Petersburg. Da sitzt man nun in der 1.Reihe, Großaufnahmen der Künstler inbegriffen. Auf Ebene 2 ertönt in einem von der Decke bis zum Boden mit braunen Vorhängen ausgekleideten Raum zur ‚Studie für ein Portrait‘ (1953) von Francis Bacon aus fünf individuell geschalteten Lautsprecherboxen die Klang-Installation ‚To Replace a Minute’s Silence with a Minute’s Applause‘ (2015) von James Richards.
Für mich war der eigentliche Hit der Ausstellung die Videoinstallation des Esten Jaan Toomik ‚Dancing with Dad‘ (2003) in Ebene 2 in einem etwas abgelegenen Raum. Da tanzt er nun am Grab seines Vaters auf einem baumbestandenen Friedhof in der estländischen Pampa, an dem im Hintergrund eine Straße vorbeiführt, zu ‚Voodoo Child‘ von Jimi Hendrix. Und natürlich geht die Musik unter die Haut, geht ins Blut, in die Glieder. Allmählich wundert man sich, nachdem man zunächst nur zugehört und zugeschaut hat, wie Toomik tanzt, als ob er etwas wegdrücken möchte, denn die Musik geht einem ganz anders rein (und wieder raus), bis man begreift, dass der Unterschied in Jaan Toomik liegt und in der Beziehung zu seinem Vater, der starb, als er neun Jahre alt war. Und allmählich glaubt man, beide zu verstehen und nicht nur das, nimmt man Teil an dieser Kommunikation von Menschen, die man nicht kennt, am Rande zwar, unaufdringlich, aber ganz körperlich, aus dem Bauch heraus und (bis zur Niederschrift hier) nonverbal. Das ist hervorragend gemacht.
Im ‚Palazzo delle Zattere‘ ist eine sehr sehenswerte und spannende neue Ausstellungsfläche in Venedig entstanden. Der Eintritt ist frei.