Museum Neukölln – Berlin

Besuch am Donnerstag, 5.10.2023, fast 2 Std.und auch früher schon v.a. in den Sonderausstellungen, diesmal in der Dauerausstellung ’99 x Neukölln‘. Das ‚Museum Neukölln‘ geht auf das Jahr 1897 zurück, als Neukölln noch Rixdorf hieß und selbständig war. 1912 umbenannt, ging Neukölln 1920 in Groß-Berlin auf. Bis 2004 hieß das Museum ‚Heimatmuseum‘. 2009 zog es vom Zentrum Neuköllns an den jetzigen Standort in Britz um und erfuhr eine Neukonzipierung. Träger ist das Bezirksamt Neukölln. Der Eintritt ist frei.

Blick ins Museum: 4 Rund-, 2 Längsvitrinen und eine interessante Ausstellung; Foto: Gerd Walther

Am Beginn des Besuchs steht eine starke Irritation. Neukölln kennt man meist aus der Presse in Verbindung mit irgendeinem Zoff. Das Museum dagegen liegt idyllisch im Gutshof von Schloss Britz mitsamt Kirchteich, Schlosspark, Waldungen, Wiesen und Tiergehegen. Dort ist das nicht sehr große Museum, das etwa zur Hälfte in einen Bereich für Sonderausstellungen und einen für die Dauerausstellung unterteilt ist, im ehemaligen Pferde- und Ochsenstall untergebracht.

99 x Neukölln sind 99 Exponate, mit denen die Stadt und ihre Bewohner nahegebracht werden. Zeitlich beginnt es mit dem Unterkiefer eines 20-30000 Jahre alten Wollhaarmammuts aus dem Fundstellentyp Rixdorfer Horizont, geht über in ein Spinnwirtel aus der Jungsteinzeit und ein Glockenfragment aus der Dorfkirche im 13. Jh.. Schwerpunkt der Ausstellung ist die Alltagskultur des 19. und 20. Jhs. 99 x wird so der Alltag der Neuköllner bis ins Detail und aus verschiedenen Blickwinkeln veranschaulicht: ein Siegel des Gutsherren, das Hausschild des Dorfschulzen vom ‚Amt Böhmisch Rixdorf‘, das Horn des Nachtwächters und Dorfpolizisten, ehe er 1899 durch die kgl.-preußische Polizei ersetzt wurde, die Schalmei eines Arbeiterorchesters, einen Siebenstriemer zur Züchtigung der Schulkinder, für deren Abschaffung ein Rixdorfer Lehrer schon 1903 eintrat, was aber erst 1949/1973 in der DDR/BRD Gesetz wurde, ein Wasserklosett, das sich ab 1900 allmählich in den Vorderhäusern durchsetzte, während in den Seiten- und Hinterhäusern noch lange das Plumpsklo im Treppenhaus oder Hof dominierte, ein Gedichtband von Erich Mühsam, der in der sog. Hufeisensiedlung wohnte, in der Münchner Räterepublik 1918 eine Rolle spielte und 1934 im KZ ermordet wurde, fünf Kidduschbecher einer fünfköpfigen jüdischen Familie, von denen nur zwei Nazideutschland überlebten, eine Werbeschallplatte der Karstadt AG, die 1929 in Neukölln Europas größtes und modernstes Kaufhaus eröffnete, ein früher hölzerner Warentrennstab aus der hiesigen Aldi-Filiale, als in den frühen 1980ern Fließbänder den Kassiererinnen das beschwerliche Heben der Waren von einem in einen anderen, leeren Einkaufswagen ersparte, und und und. Dazu auch Exponate aus der Türkei von einer kurdischen Familie, Honig aus dem polnischen Masuren, ehemals Ostpreußen, der Koffer von Exilanten in den USA, ein Amulett aus Syrien, eine Mütze von 2009 der zeitweise berüchtigten Rütli-Schule in Neukölln mit dem Aufdruck Rütli auf arabisch. Neukölln eben. Oder der Kasten einer nicht explodierten Bombe des Kaufhaus-Erpressers ‚Dagobert‘ (auch ein Neuköllner) von 1988.

Eingangserläuterung zu einem Exponat; Foto: Gerd Walther

Das alles ist pralles Leben und wird auf eine wunderbar einfache Art erläutert. Man fährt einen Monitor mit Touch-Screen vor das Exponat, das dann erscheint und in 8-10 Schritten jeweils mit einem Foto und kurzen Texten erläutert wird. Erst geht’s (meist) zeitlich in die Tiefe, dann in die Breite mit seiner Bedeutung für die Menschen. Manchmal ist es sehr ernst, manchmal skurill, manchmal zum Schmunzeln, aber immer ist es zum Staunen, was man hier aus den einzelnen Gegenständen herausholt. Während heute in vielen Museen museumsdidaktischer Klimbim die Exponate zunehmend in den Hintergrund drängt, hat man hier immer das Exponat unmittelbar von Augen. Das klingt ganz einfach, ist es aber bestimmt nicht. Ich kenne sehr wenige Museen, die sich so intensiv mit ihren einzelnen Exponaten auseinandersetzen und damit die Stadt und ihre Bewohner Gestalt werden lassen. Zudem hat man Zeit, kein Medium schreibt das Tempo der Betrachtung vor, so dass sich Gedanken in Ruhe entwickeln können. Vielleicht 25 der 99 Exponate habe ich mir schon angesehen, der Rest kommt noch. Glückwunsch. Das ist hohe Museumskunst.